Nimmt ein demokratisches System an Erkaltung Schaden ?
Es ist eine
einfache Rechnung: Wenn auf der einen Seite mehr Leute zur Wahl gehen als auf
der anderen, neigt sich die Waage in Richtung desjenigen, der seine Leute zur
Stimmabgabe motiviert. Die Mobilisierungsfähigkeit im eigenen Lager entscheidet
Wahlen, nicht die Ausstrahlungskraft auf die Anhänger der Konkurrenz.
Das Prinzip funktioniert auch umgekehrt.
Wer dafür sorgt, dass beim Gegner mehr zu Hause bleiben als bei einem selbst,
hat ebenfalls den Kopf vorn. Man kann das Erfolg durch Demobilisierung nennen.
Es ist kein sehr appetitliches Verfahren, aber nichtsdestotrotz, wenn es
gelingt, genauso wahlsichernd.
Es sieht nachher immer so aus, als ob das ganze Volk im Parlament vertreten
wäre, aber das ist eine durch die Sitzverteilung hervorgerufene Illusion,
weil man den Nichtwähler ausschließt. Der Anteil derer, die sich dort
repräsentiert sehen, wird sogar kleiner, und das ist die eigentliche Sünde der
Kanzlerin.
Spiegel-Kommentar
Erfolg durch Abschreckung
Von Jan Fleischhauer
Die SPD klagt darüber, dass sich die Kanzlerin dem Wahlkampf verweigere. Sie
verbringe zu viel Zeit auf roten Teppichen, schimpft Frank-Walter Steinmeier,
als gäbe es die verfassungsrechtlich verankerte Pflicht des Amtsinhabers, seinem
Herausforderer dabei zu helfen, ihn zu ersetzen. Auch in der Union vermissen
nicht wenige die sogenannte heiße Phase des Wahlkampfs und fordern von ihrer
Vorsitzenden mehr Einsatz.
Der Vorwurf ist falsch: Angela Merkel verweigert sich nicht dem Wahlkampf, sie
macht ihn nur sehr unattraktiv, das ist ein wichtiger Unterschied.
Die Kanzlerin hat sich entschlossen, alle Emotionen, Leidenschaften und
Energien, die man gemeinhin in den letzten vier Wochen vor dem Wahltag erwartet,
ruhigzustellen. Dass der SPD-Kandidat dabei unwillentlich zu Hilfe kommt oder
jedenfalls kein Gegenkonzept findet, ist für sie ein schönes Geschenk.
Hinter der Verödung des Wahlkampfs zu Wahlkampfzwecken steht die Überlegung,
dass es sich durchaus auszahlen kann, wenn sich vor Wahlen nicht möglichst
viele, sondern im Gegenteil möglichst wenige Leute für Politik begeistern.
Das klingt zynisch, aber es funktioniert, wie sich beweisen lässt.
Nur im politischen Poesiealbum wünschen alle Wahlkämpfer eine hohe
Wahlbeteiligung, tatsächlich kommt es für sie entscheidend darauf an, wer zur
Wahl geht.
Für den Parteipolitiker teilt sich das Wahlvolk in zwei große Gruppen, in
Anhänger und Gegner. Daneben gibt es die kleine Gruppe der Schwankenden, die man
gern zu sich herüberziehen würde, aber das ist die Kür.
Es ist eine einfache Rechnung: Wenn auf der einen Seite mehr Leute zur Wahl
gehen als auf der anderen, neigt sich die Waage in Richtung desjenigen, der
seine Leute zur Stimmabgabe motiviert. Die Mobilisierungsfähigkeit im eigenen
Lager entscheidet Wahlen, nicht die Ausstrahlungskraft auf die Anhänger der
Konkurrenz.
Das Prinzip funktioniert auch umgekehrt. Wer dafür sorgt, dass beim Gegner mehr
zu Hause bleiben als bei einem selbst, hat ebenfalls den Kopf vorn. Man kann das
Erfolg durch Demobilisierung nennen. Es ist kein sehr appetitliches Verfahren,
aber nichtsdestotrotz, wenn es gelingt, genauso wahlsichernd. Es setzt darauf,
dass der Amtsinhaber mehr von der Wahlenthaltung profitiert als sein
Herausforderer, weil in politisch müden Zeiten die Suche nach einer Alternative
nicht so dringlich erscheint, die in diesem Fall Steinmeier heißt.
Von dem amerikanischen Reporter Joe Klein gibt es ein kluges Buch, in dem er
beschreibt, wie der amerikanischen Politik unter dem Einfluss der Berater und
Demoskopen jede spontane Geste ausgetrieben wurde. Klein nennt darin den Fall
des demokratischen Senators Alan Cranston, dessen Team seine Kampagne 1986 so
bösartig und verletzend gestaltete, dass sich viele Wähler entsetzt abwandten.
Cranston gewann, weil dem Konkurrenten die mutwillig herbeigeführte
Wahlenthaltung mehr schadete als ihm selbst. Die Bundesbürger erleben, wenn man
so will, gerade die deutsche Variante des umgekehrten Wahlkampfs, in der
merkelschen Abwandlung: Die Kanzlerin schreckt nicht durch unsachgemäße Angriffe
ab, sondern durch Langeweile.
Es spricht einiges dafür, dass diese entseelte Form von Politik ihren Preis hat.
Der vielbeklagte Missbrauch von Privilegien regt die Bürger auf, hält sie aber
nicht davon ab, an politischen Prozessen Anteil zu nehmen. Die völlige
Entemotionalisierung hingegen tötet das Interesse an Politik, ein schmerzloses
und weitaus nachhaltigeres Verfahren.
Bislang dachte man immer, dass die Überhitzung des parlamentarischen Systems
eine Gefahr sei; das war die Lehre aus Weimar, wo die politischen Leidenschaften
außer Kontrolle gerieten. Jetzt scheint vorstellbar, dass ein demokratisches
System auch an der mutwillig herbeigeführten Erkaltung Schaden nehmen könnte.
Das Wohlwollen der Bürger zur Demokratie ist eine empfindliche Ressource. Wer
die Leute einmal daran gewöhnt hat, dass sie Wahlen vom Fernseher aus verfolgen
können, ohne selber daran teilnehmen zu müssen, bekommt sie nur schwer wieder
zurück.
Es sieht nachher immer so aus, als ob das ganze Volk im Parlament vertreten
wäre, aber das ist eine durch die Sitzverteilung hervorgerufene Illusion, weil
man den Nichtwähler ausschließt. Der Anteil derer, die sich dort repräsentiert
sehen, wird sogar kleiner, und das ist die eigentliche Sünde der Kanzlerin.
Quelle:
Spiegel -
Heft 37/2009 / 07.09.2009
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Quelle Bürgerinfo vom 06.09.2009
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